Digitalisierung im Mittelstand – Chancen für Unternehmen (auch in der Zusammenarbeit mit dem Steuerberater)

Ein Video- Interview zwischen der Moderatorin Doro Plutte und der Partnerin der Steuerberatungsgesellschaft Mühl Christ und Partner Ina Mücke, erschienen auf der Web Site der Steuerberatungsgesellschaft.

Doro Plutte: Frau Mücke, wie schätzen Sie den digitalen Wandel insgesamt ein?

Ina Mücke: Der digitale Wandel macht vor keinem Wirtschaftssegment und vor keinem Lebensbereich halt. Keine technologische Veränderung der letzten Jahrzehnte schneidet so massiv und nachhaltig in bestehende Strukturen, Prozesse sowie auch liebgewonnene Gewohnheiten ein, wie die Digitalisierung. Die wesentlichen Kernthesen in diesem Zusammenhang sind: Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert und auch physische Produkte werden durch digitale Lösungen ersetzt. Alles was sich automatisieren lässt, wird automatisiert. Alles was vernetzt werden kann, wird vernetzt.

Das beste Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Smartphone. Einem weiteren Phänomen kommt dabei ein in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzende Bedeutung zu: Die Theorie der Null-Grenzkosten. Die Digitalisierung führt in vielen Produktionsprozessen zu Grenzkosten in Höhe von „O“, das bedeutet die Produktivität steigt ins Unendliche, wenn jede zusätzliche Einheit ohne oder zu minimalen Kosten hergestellt werden kann. Jedes Unternehmen ist vom digitalen Wandel betroffen, auch wir.

Doro Plutte: Wie schätzen Sie den digitalen Wandel speziell für die Branche der Steuerberatung ein?

Ina Mücke: Es ist für uns keine Frage mehr, ob wir digitalisieren wollen. Wir müssen digitalisieren. Andernfalls ist für uns in fünf bis zehn Jahren kein Bestehen mehr am Markt möglich. Wir werden die Mandanten nicht mehr wie heute bedienen können. Die Anforderungen durch Ämter, Behörden und Mandanten sind andere geworden und werden sich auch weiterhin verändern. Behörden sind teilweise schon weiter als mittelständische Unternehmen, daher sind wir im Bereich der Digitalisierung schon weiter als die meisten denken. Ein Beispiel dafür ist die digitale Betriebsprüfung durch die Finanzverwaltung, welche inzwischen gängige Praxis ist. Aber hierin liegen auch unsere Chancen: Das Abheben von den Mitbewerbern, das Angebot anderer Dienstleistungen für unsere Mandanten und ein attraktiver Arbeitgeber sein.

Unser Berufsstand sollte sein hohes Ansehen und die Bindung zum Mandanten nutzen. Durch die Erweiterung der Dienstleistungen und die Verbesserung der Serviceleistungen, müssen wir es schaffen, aus unserer Mandanten „Fans“ zu machen. Wir als Steuerberater brauchen in einem veränderten Umfeld eine Daseinsberechtigung, diese besteht nicht mehr ausschließlich in der Deklarationsberatung, sondern ist zukünftig noch mehr als kaufmännische Beratung bzw. Leistung zu sehen. Hiervon können unsere Mandanten, meist mittelständische Unternehmen, nur profitieren.

Doro Plutte: Wie werden sich die Rollen in der Steuerberatungskanzlei durch die Digitalisierung verändern, wie können Sie hierbei Ihre Mandanten unterstützen?

Ina Mücke: Der Steuerberater muss mehr und mehr Unternehmer werden, sich aus der Produktion herausnehmen und den Fokus auf die Unternehmenslenkung setzen. Es muss Mitarbeiter geben, die zum Mandanten gehen und mit ihm an seinen Prozessen und kaufmännisch arbeiten und nicht nur seine Belege bucht. Wir sehen uns auch als Geschäftsfeldentwickler, die in der Kanzlei vorhandene Geschäftsfelder analysieren und eventuell neue innovative Geschäftsfelder aufgreifen, um konkrete auf den Mandanten angepasste Geschäftsfelder zu entwickeln. Wir benötige qualifizierte Mitarbeiter, welche mit hoher fachliche Kompetenz im Bereich technischer Digitalisierungslösungen die entsprechenden Maßnahmen zur Umsetzung neuer Prozesse beim Mandanten vor Ort implementieren und betreuen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn wir beim Mandanten digitalisieren, da wir nicht von heute auf morgen digitalisieren und die Mandanten – mittelständische Unternehmen – meist nicht das notwendige Know-how haben, um die Digitalisierung zu meistern. Deswegen ist es wichtig, dass die Mitarbeiter einen Kanzleihintergrund haben. Sie müssen das Grundverständnis einer Steuerberatungskanzlei haben, zum Beispiel zu einem Buchungssatz, da wir andernfalls ein klassischer IT-Dienstleister wären. Zudem benötigen wir Datenanalysten. Wir machen uns Big Data bis jetzt viel zu wenig zunutze. Hier besteht Beratungspotential für uns, aber auch Potential für unsere Mandanten.

Doro Plutte: Wie werden Sie gemeinsam mit Ihren Mandanten, die schwerpunktmäßig mittelständische Unternehmer sind, diesen Weg bestreiten?

Ina Mücke: Sicher gibt es zahlreiche Möglichkeiten, um den stattfindenden Transformationsprozess in eine logische Struktur zu bringen. Für die Bewältigung der Digitalisierung für uns, aber auch für die Unterstützung der Digitalisierung bei unseren Mandanten, werden wir uns an 6 logisch aufeinander folgenden Schritten orientieren. Wir bezeichnen diese als die „6 konzentrischen Kreise“. Wie die Wellen, die ein auftreffender kleiner Tropfen auf einer Wasseroberfläche erzeugt. Grundsätzlich bezeichnet man mit konzentrisch etwas symmetrisch auf eine gemeinsame Mitte Angeordnetes. So sehen wir den Prozess der Digitalisierung bei uns, aber auch für den Mittelstand. Beides geht ineinander über. Die konzentrischen Kreise sollen die Größe und Herausforderung ausdrücken.

Der erste konzentrische Kreis ist der Ausgangspunkt für alle weiten Entwicklungen. Ohne diesen ersten Kreis bewältigt zu haben, werden die weiter übrigen Schritte nicht erfolgsversprechend sein. Die konzentrischen Kreise drücken die Herausforderung aus. Der innerste ist noch relativ leicht zu bewältigen, während die weiter außenliegenden Kreise immer schwieriger zu erledigen sind. Genauso verhält es sich mit der zusammenhängenden Wirkung. Die Wirkung des größten (sechsten) konzentrischen Kreises ist enorm und derzeit auch noch gar nicht im gesamten Ausmaß abschätzbar.

Doro Plutte: Welche Schritte spiegeln die 6 konzentrischen Kreise im Einzelnen wieder?

Ina Mücke: Der erste konzentrische Kreis bedeutet, dass vollautomatisierte eigene Rechnungswesen in der Steuerberatungskanzlei, das bedeutet wir selbst müssen Musterunternehmen sein. Der zweite Kreis ist die Nutzung und Analyse aller vorhandenen Potentiale der in der Kanzlei vorhandenen Anwendungen in der Bearbeitung der Mandantenaufträge.

Die beiden ersten Kreise betreffen nur die Kanzlei intern. Ohne dieses beiden Schritte nicht bewältigt zu haben, sind die folgenden Schritte wenig erfolgsversprechend. Sie sind ein Muss für unsere Glaubwürdigkeit und für die Effektivität und Effizienz des eigenen Rechnungswesens. Sie sind ein Labor für Geschäftsprozessoptimierung – das heißt in unserer Kanzlei können wir testen, welche Probleme auftreten und welche Lösungen es hierfür gibt. Dieses Wissen können wir uns bei der Geschäftsprozessoptimierung unserer Mandanten nutzbar machen.

Der dritte konzentrischen Kreises bedeutet das Kennen und Nutzen aller bereits vorhandener Potentiale der Anwendungen beim Mandanten in der Bearbeitung der Mandantenaufträge. Im Rahmen des dritten konzentrischen Kreises ist erstmals das Engagement unserer Mandanten erforderlich.

Das Kennen, Vorschlagen und Implementieren von noch nicht vorhandenen Anwendungen beim Mandanten ist Inhalt des vierten konzentrischen Kreises.

Im Rahmen des fünften konzentrischen Kreises ist das Hinterfragen, Unterstützen und Beraten der Mandanten im Hinblick auf die sich ändernden Geschäftsmodelle der Mandanten entscheidend.

Der sechste Kreis bedeutet das Entwickeln und Etablieren von vollkommen neuen Geschäftsmodellen durch die Digitalisierung. Es ist die Nutzung der gesammelten und vorhandenen Daten, die sich unsere Mandanten im Rahmen der Unternehmenssteuerung nutzbar machen können.

Doro Plutte: Welche Maßnahmen bedeuten diese Schritte für Ihre Mandanten im Einzelnen?

Ina Mücke: Im Rahmen des dritten konzentrischen Kreises, geht es um Folgendes: Welche Anwendungen hat der Mandanten im Einsatz? Wie können diese mit den Anwendungen der Kanzlei verknüpft werden um Schnittstellenprobleme zu lösen? Wie sind die Prozesse des Rechnungswesens unserer Mandanten organisiert? Welche Routinen sind überflüssig? Welcher Workflow wäre unter Nutzung der vorhandenen Anwendungen ideal (Ausgangsrechnungen per Schnittstellen, Eingangsrechnungen digital mit elektronischem Prüflauf,…). Ziel ist es, die Aufgaben des Rechnungswesens zwischen Mandant und Kanzlei aufzuteilen (Shared Services). Für uns werden sogenannte „Sondereinsatzkommandos“, die vor Ort bei den Mandanten stattfinden, ein Muss. Kooperationen mit IT-Anbietern werden unabdingbar oder aber IT-Profis werden in der Kanzlei beschäftigt. Die Mitarbeiter werden deutlich mehr vor Ort bei den Mandanten sein.

Mit folgenden Themen befasst man sich im Rahmen des vierten konzentrischen Kreises: Die Marktrecherche zu den Anwendungen des Rechnungswesens, der Branchen und unserer Mandanten. Derzeit schießen Start-Ups dafür aus dem Boden, deren Vor- und Nachteile wir kennen sollten. Die Bandbreite der Anwendungen ist groß: Apps für die Zeiterfassung oder die Reisekosten, Cloudlösungen für die Verarbeitung von Rechnungen bis hin zu ERP Lösungen. Es entstehen Kooperation und Integration von IT-Unternehmen.

Der fünfte konzentrische Kreis befasst sich mit den strategischen Perspektiven der Mandanten: Wie weit betrifft die Digitalisierung die Branche des Mandanten? Welche Zukunftsperspektive ergibt sich? Wie weit greift die Digitalisierung in den Geschäftsbereich des Mandanten ein? Wie wird sich unser Mandant auf die Veränderung einstellen? Geschäftsmodelle müssen überprüft werden, was muss ggf. umgestellt werden, damit der Mandant in der digitalisierten Welt zurechtkommt? Hat der Mandant eine Strategie, die sich bietenden Chancen zu nutzen (Analyse- Coaching- und Beratungsgespräche durch uns als Steuerberater)?

Im Rahmen des sechsten konzentrischen Kreises geht es um folgende Themenbereiche: Cloudbasierte Lösungen, die ein 24 Stunden Self-Service für unseren Mandanten ermöglichen, da er durch clevere und smarte Anwendungen in den unterschiedlichen Prozesse des Rechnungswesens unterstützt wird. Das Datenmanagement von entstehenden Datenströmen aus der Vernetzung von Lieferant/Mandant/Kunden. Automatisierte, einfache Steuerberatung mittels Sprachsteuerung und interaktive Wissensdatenbanken.

Doro Plutte: Wie profitieren ihre Mandanten, die mittelständischen Unternehmen, insbesondere von der Nutzung der „Big Data“?

Ina Mücke: Im Rahmen des von uns angestrebtes Vorgehens stellt die Nutzung der Big Data den sechsten konzentrischen Kreis dar. Es liegt in der Natur der Sache und in der Logik der gewählten Systematik, dass der sechste konzentrische Kreis der noch Unklarste, Unbestimmteste und Verschwommenste ist. Allerdings wird er die umfangreichsten und gravierensten Änderungen mit sich bringen, die im Moment allerdings nur schwer einzugrenzen und zeitlich vorherzusagen sind. Derzeit ist noch nicht absehbar, welcher Nutzen aus all den vorhandenen und entstehenden Daten gezogen werden kann. Dies sollte allerdings kein Hindernis sein, alle verfügbaren Daten zu sammeln. Aus Querschnitt- und Tiefenanalysen der durch die Digitalisierung vorhandenen Datenbanken, die mit anderen Datenbanken verknüpft sein werden, entstehen Nutzen für den Mittelstand, die im Moment noch nicht abschätzbar sind. Denkbar sind: Vollkommen neue Formen von Branchenvergleichen, extrem detaillierte Strukturinformationen, Entscheidungshilfe für den optimalen Einkauf und für Verkaufspreise, Informationen zum Kundenverhalten weit über das bisher bekannte CRM hinaus, Echtzeitinformationen für Soll-Ist-Vergleiche, Szenarienberechnungen und Unternehmenssimulationen in ungeahnter Tiefe und Vielfalt.

Trotz aller Digitalisierung werden Beratungsgespräche nicht obsolet werden. Im Gegenteil, die Nachfrage wird steigen, allerdings mit neuen Inhalten. Wir sind als Berater deutlich mehr gefordert, vorhandene Informationen jederzeit abrufbar zu haben. Der Anspruch der Mandanten in Richtung früher, konkreter und detaillierter informiert zu werden, wird sicher höher. Sofern wir rechtzeitig auf den „Digitalisierungszug“ aufspringen, können wir, aber insbesondere unsere Mandanten, von der Digitalisierung profitieren. Die Digitalisierung eröffnet zahlreiche neue Chancen und Möglichkeiten, die in der Gänze momentan noch nicht absehbar sind.


Volker Mühl