Digitalisierung: Was Schach und die 2. Hälfte des Schachbretts mit Industrie 4.0 zu tun haben

„Die größte Unzulänglichkeit der menschlichen Rasse ist unsere Unzulänglichkeit, die Exponentialfunktion zu begreifen.“ – Albert A. Bartle

Die erste industrielle Revolution wurde durch die Einführung der Dampfmaschine und die Mechanisierung von Handarbeit im 18. Jahrhundert ausgelöst, die zweite durch die elektrifizierte Massenfertigung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die dritte folgte durch den Einsatz von Elektronik und Computertechnik zur Fertigungs- und Produktionsautomatisierung in den vergangenen Jahrzehnten. Jetzt wachsen in der Produktion die reale und die virtuelle Welt zusammen – man spricht von Industrie 4.0.

Das Moore’sche Gesetz und eine Fehleinschätzung

Vielleicht haben Sie schon einmal vom sog. „Moore´schen Gesetz“ gehört. Nach den Beobachtungen von George Moore in den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit der Rechnerleistungen von Mikroprozessoren alle 18 Monate bis 2 Jahre. Moore sagte voraus, dass dies mind. 10 Jahre so weiter gehen werde, wenngleich mit einer gewissen zeitlichen Unregelmäßigkeit. Nach seiner kühnen Einschätzung, würden Mikrochips im Jahr 1975 mehr als 500-mal so leistungsfähig sein wie im Jahr 1965, denn 29 = 512. Wie sich aus heutiger Sicht feststellen lässt, war Moores größter Fehler, dass er zu konservativ schätzte. Seine Prophezeiung galt nicht nur ein Jahrzehnt, sondern mehr als 40 Jahre und gilt auch heute noch. Und das nicht nur für Mikrochips, sondern insgesamt für die digitale Entwicklung.

Das Moore´sche Gesetz erklärt nichts anderes als exponentielles Wachstum. Das menschliche Gehirn tut sich schwer damit, exponentielles Wachstum zu erfassen. Wir unterschätzen dabei in der Regel, wie groß die Zahlen am Ende der jeweiligen Funktion werden können.

Die Erfindung des Schachspiels und die Belohnung als Exponentialfunktion

Die Exponentialfunktion lässt sich sehr schön mit der Erfindung des Schachspiels darstellen. Nach christlicher Zeitrechnung wurde das Schachspiel im 6. Jahrhundert in Indien erfunden, zur Zeit des sog. Gupta-Reichs (vgl. dazu H.J.R Murray, A History of Chess, 1985). Es soll sich so zugetragen haben, dass ein hochintelligenter Mann dies entwickelt hat. Dieser reiste in die Hauptstadt, um das Schachspiel dem Kaiser vorzustellen.

Der Kaiser war sehr angetan von dem hochkomplexen Spiel und forderte den Entwickler auf, er dürfe sich seine eigene Belohnung wählen. Der Entwickler äußerte den „demütigen“ Wunsch, dass er sich nur etwas Reis für seine Familie wünsche. Der Kaiser möge doch auf das erste Feld des 64-feldrigen Schachspiels zwei Reiskörner legen, auf das zweite Feld vier, auf das dritte Feld acht usw..

Der Kaiser willigte ein und war sich jedoch zunächst nicht der Tragweite seiner Einwilligung bewusst: diese Entscheidung machte ihn zu einem armen Mann. Denn 264 ergibt 18.446.744.073.709.551.616 (in Worten: 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend und sechshundertsechzehn).

232 hingegen ergibt „nur“ 4.294.967.296 (in Worten: 4 Milliarden, 294 Millionen, 967 Tausend und zweihundertsechsundneunzig). Also so richtig groß werden die Zahlen erst auf der zweiten Hälfte des Schachbretts.

64 Verdopplungen ergeben eine fantastisch hohe Zahl, selbst wenn die Ausgangszahl zwei ist.

Ein Reishaufen mit 264 Reiskörnern hätte den Mount Everest überragt; ein solch großer Reishaufen war in der Weltgeschichte noch nie produziert worden.

Diesen Wunsch konnte der Kaiser nicht erfüllen. Als er das merkte, so heißt es in manchen Versionen der Geschichte, hat er den Erfinder des Schachspiels enthaupten lassen, weil er sich ausgetrickst fühlte.

Die zweite Hälfte des Schachbretts – hier geht es richtig „ab“

Aber was hat diese Geschichte mit der Digitalisierung in unserer heutigen Welt zu tun?

Nun, wenn wir uns klar machen, dass 1982 der erste Personal Computer auf den Markt kam und seit dem ca. 35 Jahre vergangen sind, geht es nach dem Moore´schen Gesetz jetzt erst so richtig los mit der Digitalisierung. Wir sind sozusagen auf der zweiten Hälfte des Schachbretts angelangt und jetzt können die Mikroprozessoren resp. deren Leistungsfähigkeit und alles was die Digitalisierung ausmacht, so richtig wirksam werden.

Alles was geht, wird digitalisiert. Und dies wird einschneidende Veränderungen mit sich bringen: in der Arbeitswelt, unseren Berufen und Tätigkeiten und daraus resultierend im sozialen Gefälle.

Durchschnittseinkommen vs. Medianeinkommen

Die Formel, die per Jahrzehnte galt, dass Produktivitätssteigerungen immer allen, also auch den Arbeitnehmern, zugutekommen, gilt nicht mehr. In den westlichen Volkswirtschaften gilt zwar nach wie vor, dass das Durchschnittseinkommen steigt, das Medianeinkommen jedoch sinkt. Was bedeutet das?

Nehmen wir an, dass fünfzehn Bankangestellte in einer Kneipe zusammensitzen, um Bier zu trinken. Nehmen wir weiter an, dass jeder dieser Bankangestellte ein Jahreseinkommen von 50.000 EUR hat. Das Durchschnittseinkommen beträgt also 50.000 EUR und das Medianeinkommen ebenfalls. Medianeinkommen ist das Einkommen der Person, die sich genau in der Mitte der Einkommensverteilung befindet. Da betritt der Vorstand des Geldhauses das Lokal und ordert ebenfalls ein Hopfengetränk. Das Durchschnittseinkommen der anwesenden Banker ist nun erheblich gestiegen als der Vorstand hinzugekommen ist, hingegen ist das Medianeinkommen gleich geblieben.

Allgemein gilt: je größer die Einkommensverzerrung, desto stärker weicht der Mittelwert tendenziell vom Median ab. Und das gilt nicht für unsere hypothetische Kneipe, sondern nahezu für alle Volkswirtschaften unserer Welt. In nahezu allen westlichen Volkswirtschaften ist festzustellen, dass die Durchschnittseinkommen gestiegen, jedoch die Medianeinkommen der Arbeitnehmer gesunken sind.

Diese Entwicklung wird sich weiter verstärken, weil die Entwicklungen der Digitalisierung dazu führen werden, dass einfache Tätigkeiten bzw. Tätigkeiten, die sich leicht digitalisieren lassen, sprich durch Algorithmen resp. Maschinen ersetzen lassen, auch umfassend digitalisiert werden. Dies erscheint unaufhaltsam.

Chancen für den Einzelnen im Zeitalter der Digitalisierung

In erster Linie wird es in der Zukunft darum gehen, dass wir uns zunächst darüber bewusst werden, dass die Digitalisierung auch Vorteile und Chancen mit sich bringen wird.

Die Vorteile liegen u.a. in niedrigen Preisen, diversifizierten Produkten und technischen Möglichkeiten und Annehmlichkeiten. Wie Erik Brynjolfsson und Andrew Mcaffee in ihrem Buch „The Second Machine Age“ beschreiben, liegen die Chancen für den Einzelnen darin:

„Unsere Empfehlungen dazu, wie Menschen im neuen Maschinenzeitalter wertvolle Wissensarbeiter bleiben können sind einfach: Arbeiten Sie daran die Fähigkeiten zur Ideenbildung, Mustererkennung und zur komplexen Kommunikation zu verbessern, statt sich nur auf Schreiben, Lesen, Rechnen und Auswendiglernen zu konzentrieren. Und wann immer es möglich ist, begeben Sie sich in sich selbst organisierende Lernumfelder, die ja erfolgreich belegen können, dass sie Menschen solche Kompetenzen vermitteln.“

Wenn man also genau liest: Ein Aufruf zur Neuordnung unseres Bildungswesens. Wir brauchen nicht mehr Industriearbeiter, sondern mehr Kreativität. Dies muss sich auch in unserer Bildung niederschlagen.

Die Montessori-Schulen sind ein Beispiel für die Förderung durch sich selbst organisierende Lernumfelder, so die genannten Autoren.

Ein Wall-Street-Journal-Blog-Beitrag von Peter Sims:

„Der pädagogische Ansatz von Montessori könnte der sicherste Weg sein, Teil der kreativen Elite zu werden, in der die Montessori-Absolventen dermaßen überrepräsentiert sind, dass man schon eine Montessori-Mafia vermuten könnte.“

(vgl. Brynjolfsson und Andrew Mcaffee in ihrem Buch „The Second Machine Age“, Kapitel 12, S. 236).

Hier wird auch darauf hingewiesen, dass u.a. folgende Gründer Montessori-Schüler waren: Larry Page (Google), Sergey Brin (Google), Jeff Bezos (Amazon), Jimmy Wales (Wikipedia).

Die strategische Führung durch den Menschen – Erkenntnisse aus dem Freistil-Schach

Der amtierende Schachweltmeister Garry Kasparov verlor im Jahr 1997 gegen den IBM-Schachcomputer „Deep Blue“.

Heute kann sich kein Schach-Großmeister mehr gegen einen mittelguten Schach-Computer durchsetzen. Der Reiz des Duells „Mensch gegen Maschine“ ist im Schach verflogen.

Gleichwohl haben sich neue Wettbewerbe und Möglichkeiten ergeben: zB Freistil-Wettbewerbe.

Kasparov selbst erklärt dazu schon im Jahr 2005:

„Die Mannschaften aus Mensch und Maschine dominierten sogar den stärksten Computer. Die Schachmaschine Hydra, ein schachspezifischer Supercomputer wie Deep Blue, war kein demütiger Gegner für den starken menschlichen Spieler, der einen relativ schwachen Laptop verwendete. Die Kombination aus menschlicher strategischer Führung und dem taktischen Scharfsinn eines Computers war überwältigend. Die Überraschung kam am Ende der Veranstaltung. Der Gewinner entpuppte sich nicht als ein Großmeister mit einem hochmodernen PC, sondern als ein Paar amerikanischer Amateur-Schachspieler, die drei Computer gleichzeitig nutzten. Ihre Fähigkeit die Computer zu bedienen und zu „coachen“, um Stellungen sehr ausgiebig zu analysieren, konterkarierte erfolgreich das Schachwissen ihrer Großmeistergegner und die größere Rechnerleistung anderer Teilnehmer-Computer.

Schwacher Mensch + Maschine + bessere Methode waren einem starken Computer allein überlegen und, noch bemerkenswerter, sie waren auch besser als ein starker Mensch + Maschine + schwächere Methode.“

(Vgl. Garry Kasparov, „The Chess Master and the Computer“, New York, Review of Books, 11.02.2010).

Also die essentielle Erkenntnis daraus ist: Mensch und Computer gehen nicht auf die gleiche Art und Weise an Aufgaben heran. Wenn Mensch und Maschine sich ergänzen und die Kreativität durch die strategische Führung des Menschen gehebelt wird, dann können wahnsinnige Resultate erreicht werden.

Der Test für den weiteren Fortschritt

„Der Test für den Fortschritt besteht nicht darin, ob wir Denjenigen, die schon viel haben, noch mehr Überfluss verschaffen, sondern es geht darum, dass wir denjenigen, die nicht genug haben, genug geben.“ – Robert F. Kennedy

Dazu mehr in der nächsten Ausgabe meines Blogs.


Volker Mühl