Sei Dein eigener besonnener Wagenlenker

Eine liebe Freundin, Gertie Wallner aus St. Johann im Pongau/ Österreich, hat meiner Frau Birgit und mir zuletzt ein Buch geschenkt: „Wie lebe ich ein gutes Leben? – Philosophie für Praktiker“ von Albert Kitzler.

Gertie, herzlichen Dank dafür.

Ich möchte dieses Buch, nachdem ich es gelesen habe, jedem/jeder empfehlen, der oder die sich gerne mit Philosophie befasst, die sehr verständlich und mit Lebenswirklichkeit dargestellt ist.

Im folgenden möchte ich einen Aspekt, nämlich den des Wagenlenkers, den Platon in sehr anschaulicher Weise beschreibt, aus dem Buch herausgreifen und dem interessierten Leser vorstellen.

Wer sich selbst kennt, ist weise

„Wer sich selbst kennt, ist weise“, sagt der chinesische Gelehrte Laotse, „ohne aus der Tür zu gehen, kennt er die Welt.“

Wir können in uns alles wiederfinden, was uns umgibt, und umgekehrt: in allem, was uns umgibt, können wir uns selbst wiederfinden.

„Erkenne Dich selbst!“ – Sokrates, griechischer Philosoph, definiert mit seinem Ausspruch den Ausgangspunkt der Philosophie schlechthin. Gemeint ist damit der Versuch über das Ich mithilfe vertiefter Selbsterkenntnis die Welt und die menschlichen Dinge besser zu verstehen.

Das wir in uns „alles“ und die „Welt“ finden können, ist recht unbestimmt und auch sehr vage.

Konkreter und anschaulicher ist da Platon. Wenn wir in das Innere unserer Seele schauen, meinte er, werden wir ein „vielköpfiges Ungeheuer“ finden. Denn nichts anderem gleiche unsere Seele: Sie habe die …

„… Gestalt eines mannigfach zusammengesetzten und vielköpfigen Ungeheuers, das rundum Köpfe von teils zahmen, teils wilden Tieren hat, und dabei in der Lage ist, sich in alle diese Tiere zu verwandeln und auch alle diese Tiere aus sich zu erzeugen.“

Mit „Ungeheuer“ hatte er vor allem die maßlose Gier nach Macht, Ruhm, Ansehen, Sex, Geld, Reichtum im Auge. Aber auch alle anderen Bestandteile des Ichs waren gemeint: Begabungen, Wünsche, Wertungen, Zu- und Abneigungen, Liebe, das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, Ängste, Zorn, Neid, Hass, unbewusste Prägungen usw.

All das sind innere Kräfte, die in ihrer Gesamtheit unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen und unser geistig-seelisches Sein ausmachen.

Aber noch etwas ist in der Seele: „Glück und Unglück“, wie es der griechische Philosoph Demokrit kurz und bündig auf den Punkt brachte. Wir brauchen das rechte Maß. Denn ansonsten überschreiten wir das Maß. Berauscht vom Glück überschreiten wir die Grenzen und das Glück schlägt in Unglück um.

Wir brauchen eine Harmonie der inneren Kräfte

Wir sagen heute „innere Ausgeglichenheit“. Aristoteles bezeichnete es als „Übereinstimmung mit sich selbst“.

Es ist existenziell, dass wir unser Inneres und Äußeres Leben so aufeinander abstimmen, dass wir den „goldenen Schnitt“ unserer inneren Kräfte finden und „unser Haus bestellen“, so Platon.

„Maß und Mitte bewahren“, empfahl Konfuzius, chinesischer Weiser und Gelehrter.

Gelingt uns dieses Mäßigen und Zügeln übermäßiger Bedürfnisse nicht, so kommt es zwangsläufig zu Einseitigkeiten und zu einer Vernachlässigung wichtiger anderer Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte.

In der Folge sind wir unausgeglichen. Wir leben eine Monokultur, die wie jeder Landwirt weiß, jeden Boden allmählich auszehrt und unfruchtbar macht.

Ausgeglichen leben und sich selbst gerecht werden, möglichst ganzheitlich leben, das ist eine große Kunst. Gerade in der heutigen Zeit.

Verallgemeinernd kann man sagen, dass zahlreiche der heute weit verbreiteten Krankheiten, wie Bluthochdruck, Schlafstörungen, Rückenprobleme, Magen-Darmprobleme, Angstzustände, Depressionen, Burn-Out, Herzinfarkte usw. auf derartige Einseitigkeiten zurückgeführt werden können, also auf innere Unausgeglichenheiten und Disharmonien.

Je mehr es uns umgekehrt gelingt, unseren unterschiedlichen Bedürfnissen in einem ausgewogenen Verhältnis gerecht zu werden, umso besser fühlen wir uns, umso mehr Kraft, Energie, Widerstandsfähigkeit und Gelassenheit gewinnen wir.

Erhöhte Achtsamkeit bringt uns erhöhte Resilienz

Das sagen wir heute mit modernen Worten, was die alten Griechen, Chinesen und Inder auch schon wussten.

Jeder kennt die Zielkonflikte zwischen Arbeit, gesellschaftlichen Verpflichtungen, Familie, Hobbies, Urlaub, Freizeit etc.

Häufig opfern wir dem beruflichen Erfolg, dem Ehrgeiz, dem Geld, der Macht, oder dem gesellschaftlichen Ansehen viele unserer anderen Interessen, die wir am Ende nicht mehr wahrnehmen.

Herzog Ai fragte den Meister Kung (Konfuzius) und sprach: “ Ich habe von einem Menschen gehört, der so geschäftig und dadurch so vergesslich war, dass er bei einem Umzug seine Frau vergessen hat. Ist so etwas möglich?“

Meister Kung erwiderte:“Das ist noch nicht die schlimmste Vergesslichkeit. Am Schlimmsten ist es, wen man sich selbst vergisst.“

Würden wir in einem Fitnesszentrum über Jahre hinweg jeden Tag 12 Stunden nur bestimmte Muskeln oder Muskelgruppen und nur einmal im Jahr für zwei oder drei Wochen noch ein paar andere Muskeln trainieren, hielte das niemand für ein ausgeglichenes Körpertraining oder für gesund.

Aber im Hinblick auf unsere geistig-seelischen Kräfte scheinen viele von uns es so zu machen. Jedenfalls bei denen, die Arbeit haben, dominiert diese häufig alles andere.

Das Bild des Wagenlenkers mit seine Rössern von Platon

Wie stellen wir nun dieses ausgewogene Verhältnis unserer inneren Kräfte her? Platon, der stets in Bildern dachte, griff zur Veranschaulichung der damit aufgeworfenen Frage zu dem Bild eines Wagenlenkers, seinerzeit noch von Pferden gezogen, meistens von zwei oder vier. Bei allen sportlichen Wettkämpfen des Altertums war das Wagenrennen der Höhepunkt. Es stellte einen der ältesten olympischen Disziplinen dar. Für Platon glich die menschliche Vernunft, d.h. die Fähigkeit zur bewussten Lebensgestaltung, dem Wagenlenker und die verschiedenen Seelenkräfte den Pferden, deren es so eigentlich noch viel mehr gab als zwei oder vier. Für den Wagenlenker sei es nun von entscheidender Bedeutung, dass er den Charakter der einzelnen Pferde so genau wie möglich kenne, sprich unsere individuellen Stärken und Schwächen. Nur so wisse er, welches Pferd er wann zügeln und welches er wann antreiben müsse, damit die Pferde harmonisch im Gleichschritt laufen. Nur wenn dies gelinge, komme der Wagen schnell und sicher ans Ziel.

Mit anderen Worten: Wenn wir geschickt „unseren Wagen“ lenken, dann können wir das Leben führen, das wir uns vorgestellt haben.

Je besser wir die Kunst des „Wagenlenkens“ beherrschen, umso mehr werden wir uns selbst gerecht, rundet sich unsere Persönlichkeit ab, gewinnen wir Selbstbewusstsein, Stabilität, Ausgeglichenheit, Stärke und Kraft.

Daraus folgt:

Der Weise vermeidet Einseitigkeit und

bemüht sich um eine ausgeglichene Befriedigung seiner verschiedenen Bedürfnisse.

und:

Der Weise lernt stets dazu,

indem er das Gelernte in seinem Denken und Verhalten einübt.

und:

Der Weise nimmt sich Zeit für sich.

und:

Wer viel arbeitet, muss viel ruhen – wer intensiv arbeitet, muss intensiv ruhen.

Es gibt sicher noch mehr, was für ein gutes und zufriedenes Leben von Bedeutung ist. Das hier Betrachtete ist allerdings ein wesentlicher Teil.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute und viel Geschick beim Wagenlenken.

Ihr Volker Mühl


Volker Mühl